KEIN BEDARF

Dass Schreiben ein Beruf sei, ist ein Gerücht, das durch die Tatsachen rasch widerlegt wird. Weniger leicht lässt sich widerlegen, dass etliche Berufe auf der Tätigkeit des Schreibens beruhen. Schreiben ist eine Kulturtechnik – genauer: es umfasst eine Klasse von Kulturtechniken –, die eine Reihe hochspezialisierter Berufe hervorgebracht hat. Dieses Wort (›hervorgebracht‹) macht mich lachen, sooft ich ihm begegne. Ich sehe dem Schreiben zu, wie es Tätigkeiten hervorbringt. Fürs erste die des Schreibens selbst, diesmal nicht als Technik, sondern als Lebensweise: als kontinuierliches, den Tagesablauf prägendes Malen von Schriftzeichen, als entsprechende Tätigkeit von Dichtern und Gelehrten, als Diktat eines eiligen Vorgesetzten, als ›Tippen‹, dem der Selfmadetypus des Schriftstellers entspricht, dieser Seitentrieb des mehr oder weniger rasenden Reporters, als word processing, mit dessen Hilfe Journalisten und Wissenschaftler ihr tägliches Pensum Text in den Bestand des Geschriebenen einspeisen. Ich gebe zu, das Diktat fesselt meine Aufmerksamkeit. Hier sehe ich etwas verwirklicht, das arrivierte Schriftsteller mit Göttern und Diktatoren verbindet. Ein Schriftsteller, der seinen Eingebungen folgt, reicht sie weiter an eine Person oder ein Computerprogramm, das sie umsetzt, also weiterreicht an Instanzen, die ebenfalls weiterreichen, bis sie die Leser erreichen, die schon wissen, dass auch sie umsetzen müssen, was da geschrieben steht – in Lese-, gelegentlich Denktätigkeit, in Gefühl, Bewegung, Anteilnahme, Handlung vielleicht, jedenfalls in Bewusstsein. Das Schreiben ist eine Bewusstseinsmaschine. Je vermittelter es daherkommt, je mehr Apparate und zu Apparaten degradierte Personen es durchläuft, desto machtvoller verfügt es über die Menschen. Ihr höchstes Stadium erreicht die Maschine dort, wo der Schriftsteller als Autor nicht mehr erscheint: in der Religion, in der Filmindustrie, im Fernsehen mit seinem extremen und extrem anonymisierten Wortverbrauch.

Ich möchte nicht behaupten, dass es den Schriftsteller zu einer quasi-göttlichen Position drängt. Etwas lenkt ihn, drängt ihn, bugsiert ihn in diese Richtung. Dieses Etwas ist der Bedarf, besser, es sind die ›Bedarfe‹, die sich von den Bedürfnissen so unterscheiden wie eine Computersimulation von einem Kirschbaum. Ohne den Wunsch, benötigt zu werden, ist die ›moderne‹ Schriftsteller-Existenz wohl nicht zu begreifen. Er entsteht mit der gesellschaftlichen Freisetzung: Du bist jetzt Schriftsteller, also gut, du musst das verantworten, es ist anzunehmen, dass du weißt, was du tust, im Erfolgsfall sehen wir uns wieder. Die flankierenden Instanzen, heißt das, treten in den Hintergrund. Ein Schriftsteller ist frei, das zu tun, wozu es ihn drängt. Es drängt ihn aber nach dem Erfolg. Warum? Weil niemand sonst den Schriftsteller in ihm sieht. Er will aber gesehen werden, nichts anderes meint das Wort von der Schriftsteller-Existenz. Er will, dass man ihm seine Existenz ›abnimmt‹. Das ist ein zweideutiges Wort, das eine zweideutige Praxis anzeigt. Am Ende läuft, was so einer tut, aufs Beweisen hinaus – beweisen, dass es ihn gibt, beweisen, dass es ihm gelingt, so zu leben und gut zu leben, beweisen, dass er besser ist als andere, beweisen, dass die Gesellschaft ihn nötig hat. Letzteres ist der Schlüssel zu allem, die Voraussetzung dafür, dass man ihm abnimmt, was er zu bieten hat. Man nimmt ihm aber ab, wonach ein Bedarf besteht. So kommt der Bedarf in ihn hinein, um ihn nicht mehr zu verlassen. Er wird, wenn man so will, bedarfssüchtig. Der Bedarf bestimmt den Rhythmus seines Produzierens. Er bestimmt den Inhalt, die Form, die mediale Zurichtung, das Aussehen, die Sprechweise, die Vita.