ERZÄHL MIR WAS!

Wer schreibt, lügt. Eine Tatsache, kaum erwähnenswert, verbände sie sich nicht auf der Stelle mit anderen, möglicherweise weniger nichtssagenden, darunter der einen oder anderen aus dem, was der Schreibende nach einer Übereinkunft, die älter ist als er und die ihn überdauern wird, sein Leben nennt. Leicht vergisst, wer sie niederschreibt, dass dergleichen Episoden ›aus meinem Leben‹ im Leben anderer ein Widerspiel besitzen. Wenn nicht, will er es vergessen machen: weniger, weil er die Konkurrenz der Erinnerungen fürchtet – keine Erinnerung fürchtet die andere, vermutlich weil ihr ein Wissen um ihre einzigartige Beweglichkeit eingeschwärzt ist –, eher, weil er sich in der Lage eines Menschen sieht, der etwas ausplaudert, was der andere vielleicht gern verschwiegen hätte. Man fürchtet den Ärger, womöglich die Rachsucht des anderen, man empfindet seine wachsende Wut und vor allem seine Scham. Über all das setzt sich der Erzähler hinweg, aber umsonst. Jedes Rädchen, aus dem der eingebildete Andere sich zusammensetzt, kommt mit, es kratzt sich den Aufzeichnungen ein, während der Schreiber vorgibt, nicht darauf zu achten, weil es ihm nicht wichtig erscheint, jedenfalls jetzt nicht. Unmerklich fügt sich aus den Schrammen und Kratzern das Bild zusammen: das wahre Abbild einer eingebildeten Wut und einer eingebildeten Scham.

Es ist ein Wettlauf der Erinnerung gegen sich selbst. Käme sie jetzt, die Person, die mich so lebhaft beschäftigt, sie würde mit dem, was sie vorbringen könnte, nicht durchdringen – bei mir ohnehin nicht und auch nicht bei denen, die ich mit meiner Darstellung eingenommen habe. Soll sie doch kommen! Nun ja, schließlich kommt sie nicht, sie wird nie kommen. Käme sie doch, sie träte durch einen Nebeneingang ins Zimmer und beharrte in unbegreiflicher Erregung auf etwas, das nie gemeint war. Das ist schon deshalb so, weil es allenfalls an ein unbedeutendes Glied der Erinnerungskette rührt. Die Person selbst wäre nur ein nichtiges Glied, gegen das Gleiten der Erinnerungen genommen, das weder Anfang noch Ende kennt und jedes von außen herangetragene Datum geschmeidig umfließt und in sich auflöst. ›Daran kann ich mich nicht erinnern.‹ Ist das wahr? Ist das wirklich wahr? Wer sagt das? Wer hat das behauptet? War ich das? Jede dieser Fragen enthält eine Verneinung, die den Fragenden vorwärtstreibt, bis er sich etwas einverleibt hat, das ihm anfangs fremd schien, zumindest ungewohnt, ehe der Prozess des Fragens die Gewöhnung vollzog. Lebhaft erinnere ich mich an das, woran ich ursprünglich keine Erinnerung hatte. Das ist ganz normal und es beschränkt sich nicht aufs Erinnern. Ich weiß, was ich weiß, nur deshalb, weil ich es ursprünglich nicht wusste. Jemand hat den Schalter betätigt und es ward Licht. Wer bin ich, dass ich den Schalter ein zweites Mal betätige? Wer davon nichts weiß oder zu wissen behauptet, muss wohl ein Liebhaber der Antifiktion sein.

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