Über annähernd hundert Jahre – nach einer anderen Zählung, solange es Bücher gibt – wurden Bücher geträumt, entworfen, geschrieben, die sensu stricto nicht realisierbar sind, jedenfalls nicht in der Ordnung des Buches, und sie sind die wahrhaft anregenden geblieben, neben denen die anderen muffig wirken, populär oder ›nicht richtig‹. Entwerfe ich ein Netzbuch, muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob ich die Möglichkeiten des Mediums richtig taxiere. Ich stelle mir diese Frage auch selbst. Kann ich die Ordnung des Buches nicht loswerden?
Ein Netzbuch ist ein Buch ›im Netz‹: offen zugänglich, von allen Seiten her einsehbar, in Sekundenschnelle von jedem Ort der Erde aus abzurufen, sofern eine Verbindung besteht, jedenfalls näherungsweise, der Idee nach. Natürlich gibt es Zensur, vielleicht Selbstzensur, bei so viel Offenheit wächst der Wunsch, sich zu verstecken, nicht irgendwo, sondern gerade dort, wo der Trubel herrscht. Auch hier existiert Herrschaft und damit der Wunsch, sich zu widersetzen. Es ist ein Buch: geschrieben, um gelesen zu werden, und sei es vom Verfasser. Aber ist es ein Buch? Mit einzelnen, mechanisch, das heißt nicht-sinnhaft miteinander verbundenen Seiten, mit einer Seitenfolge, einem Oben und Unten, einem Vorn und Hinten, mit Abteilungen, Kapiteln, Abschnitten, Absätzen – Unterteilungen, an die jeder gewöhnt ist, der weiß, was dieses Wort bedeutet? Hat es einen Titel? Einen Untertitel? Zwischentitel? Eine Widmung? Ein Motto? Was hat es nicht? Was hat es darüber hinaus? Ist es ein ›elektronisches Buch‹? Was ist ein elektronisches Buch?
Bücher schreibt man abschnitt- oder kapitelweise. Was nicht heißt: hintereinander. Man stellt die Kapitel, wie man sie braucht: sie sind die mobilen Einheiten des Buches. Zusammen sollen sie eine Sache ergeben, etwas mit Hand und Fuß: eine Abhandlung oder einen Roman. Gleichgültig, in welcher Reihenfolge sie geschrieben wurden, am Ende gilt die, in der sie angeordnet werden. In dieser Reihenfolge ergeben sie einen Sinn. Besaßen sie vorher keinen? Natürlich, man hätte sie einzeln publizieren können und manche Bücher sind nichts weiter als Sammlungen von Aufsätzen oder Erzählungen, die am losen Faden eines Einfalls aufgereiht wurden. Das sind mit Nachsicht oder sogar Wohlwollen betrachtete Mogelpackungen. Kapitel sind anders. Wann ergeben sie ein Buch? Warum ergeben sie ein Buch?
Ein Buch hat ein Thema: das Kapitel hat auch eins. Ein Buch bildet eine Einheit: das Kapitel auch. Ein Buch bringt ein Thema zu einem (vorläufigen) Ende: nicht anders das Kapitel. Das Buch steht in Zusammenhängen: das Kapitel auch. Hier ist kein Durchkommen. Das Kapitel ist ein kleines Buch, das Buch – ein großes? Aber das ist ein relatives Kriterium, wie jeder Leser weiß. Kapitel können sich auswachsen, können zu Büchern werden, wie jeder Autor weiß. Soll heißen: Sie sprengen das erdachte Gefüge. Demnach bilden sie zunächst ein Gefüge. Sie fügen sich zusammen (oder auch nicht). Jedenfalls misst sich ihre Brauchbarkeit daran, ob sie einen Platz innerhalb des erdachten Gefüges einnehmen oder einnehmen können.
Was ist ein Gefüge? Fürs erste ein Bild, eine Metapher, abgelesen an einfachen Handlungen des Aneinander- oder Zusammenfügens: das Zusammengefügte muss wohl ein Gefüge bilden. Dennoch stockt der Sprachsinn an dieser Stelle: Ist ein Stuhl ein Gefüge? Ein Tisch? Eine mechanische Uhr? Eine Lampe? Ein Kugelschreiber? Ein Computer? Eine Seite, bedeckt mit Worten? In gewisser Hinsicht, ja. In anderer also nicht? Ein Gefüge ist ein Verbund: Das Zusammengefügte muss sich zu etwas verbinden, das es so vorher nicht gab. Das trifft auf die gewählten Beispiele zu. Ein Kugelschreiber ist ein Kugelschreiber, nicht die Summe seiner Bestandteile. Allerdings kann man ihn jederzeit in seine Bestandteile zerlegen, ohne ihn zu zerstören: man kann ihn wieder zusammenschrauben. Kann man ein Gefüge zerlegen, ohne es zu zerstören? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Eher nicht: Besser man lässt es, wie es ist. Warum? Weil das Wort Zerstörung ihm näher steht: ein zerlegtes und wieder zusammengesetztes Gefüge ist vielleicht nicht mehr dasselbe.