FRAGMENT-ZEIT

Unter den selbstgestellten Aufgaben – und Schriftsteller sein heißt, nur selbstgestellte Aufgaben auf dem eigenen Schreibtisch zuzulassen – hat sich eine der Buchform seit jeher nur schlecht gefügt: die Aufgabe, nicht fertig zu werden. Das Regime des Buchdrucks sah dergleichen nicht vor. Schon Montaignes Essais mussten irgendwann gedruckt werden. Was bedeutet, dass sie ihrer inneren Anlage nach Fragment blieben. Das Fragment ist die Lösung für eine Aufgabe, die unter den Bedingungen, einen bestimmten Umfang und Gehalt an Geschriebenem zwischen zwei Buchdeckel zu bringen, zum Scheitern verurteilt bleibt und deshalb als akzeptierte, als legitime Form des Scheiterns gilt. Dass eine Sache Fragment bleibt, bedeutet nach der Logik mechanischer Vollendung, dass sie – aus inneren oder äußeren Gründen – liegen geblieben ist oder das Projekt für den Ausführenden zu groß war. Dem entspricht die Option, ein anderer möge es in die Hand nehmen und weiterführen. Allerdings hat bei literarischen Großunternehmungen dieser andere sich stets mehr oder weniger rasch als ein Arbeiter zuviel im Weinberg des Herrn erwiesen. Die Auguren zogen daraus den Schluss, es müsse Projekte geben, die ihrer inneren Anlage nach nur Fragment bleiben können. Die Schriftsteller wären keine, hätten sie nicht gefunden, es müsse seinen eigenen Reiz besitzen, die literarische Unform ›Fragment‹ zu bedienen – mit zum Teil ausgeklügelten Begründungen, die selbstredend den Kern der Angelegenheit, die Notwendigkeit, irgendwann gedruckt zu werden, um gelesen werden zu können, in der Regel unberührt lassen. Der Druck, den diese Notwendigkeit auf die Schreibenden ausübt, bleibt ungenannt, weil er sogleich in eine Schwierigkeit des Schreibens umgemünzt wird. Wer das System nicht bedienen kann, ist ein lausiger Lieferant und scheidet aus, sofern ihm nichts einfällt, das den Ausfall wenigstens im nachhinein als eine besonders ausgeklügelte Strategie rechtfertigt. Deshalb besitzen Fragment gebliebene Werke, wenn der Markt sie annimmt, ein besonderes Prestige – der dem Scheitern abgerungene Erfolg ist bekanntlich der größte.

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