OFFENE LITERATUR

Es täuscht sich, wer glaubt, dass digitale Bücher die Vorteile beider Lesesysteme verlustfrei zusammenführen. Sie können nicht unsichtbar und vor allem nicht ungeschehen machen, was jeder, der lesen kann, mit eigenen Augen erfährt. Das beginnt beim Umblättern der Buchseiten, einem hochautomatisierten Akt, der dem Lesenden plötzlich lästig wird und eine Art Flimmern produziert, lästig wie eine Fliege, die beim Lesen stört und fortgewedelt wird, aber beharrlich wiederkehrt. Der Grund liegt auf der Hand: es wäre nicht nötig, den Satz gerade an dieser Stelle auseinanderzureißen, um das Umblättern einer Buchseite zu simulieren. Es ist, ehrlich gesagt, widersinnig, da das elektronische Medium Buchseiten weder kennt noch benötigt. Es ist nicht nur widersinnig, sondern irritierend, weil es daran erinnert, dass hier etwas konserviert wird, was nie mehr als eine Notlösung war und nun beharrlich gegen sich selbst zeugt. Weder ist es nötig, dass elektronische Seiten die gleiche Anzahl festgelegter Zeilen reproduzieren, noch dass sie, der ökonomischen Nötigung kalkulierter Druckseiten folgend, überhaupt gefüllt werden müssen. Was und wieviel auf einer digital erzeugten Seite steht, kann, frei den Kriterien inhaltlicher Kohärenz folgend, von Fall zu Fall festgelegt werden, und zwar von beiden Seiten. Der Schreibende, heißt das, kann von Mal zu Mal, von Seite zu Seite ein gewisses Schema generieren und der Lesende kann das Angebot annehmen oder es scrollend nach eigenem Bedarf modifizieren. Ist das wichtig? Ist es nicht banal? Ja, es ist banal. Ja, es ist wichtig. Wer sich den Internet-Leser – denn um ihn geht es, keine Frage – als spaß- und informationssüchtiges Halbmonster vorstellt, der hat vielleicht eine Zeitlang die Lacher auf seiner Seite, aber ihm entgeht, dass er sich selbst nur in seinen halbgaren Gewohnheiten aufs Korn nimmt. Wo die Information überwiegt, ist das Medium nicht die Botschaft, sondern das, was sich von selbst versteht und daher zum Schweigen verurteilt ist. Da es niemals ganz schweigt, überliest oder überhört man die Signale, die von ihm ausgehen, so wie ich vielleicht auf eine am Rande eines Textes eingefügte Grafik zurückkomme, auf dessen Lektüre ich mich gerade konzentriere, vielleicht auch nicht. Im Augenblick der intensiven Lektüre jedenfalls ist sie für mich nicht vorhanden, die in ihr zweifellos existierende Information null, zero, inexistent. Sie ist aber vorhanden und stört.