Dass und wie sich die Klassiker unter der Hand verändern, lässt sich erst an der Gesamtheit der Rezeptionsverläufe ermitteln. Das elektronische Buch ist da nur ein Mittler unter anderen. Die Verfügbarkeit der ›Stellen‹ mitsamt ihren Prä-, Sub- und Folgetexten etwa jenseits der spezialisierten Apparate bringt Licht und Luft in die hermeneutischen Labors und verändert die akademische Beschäftigung mit den Texten: eine abrupte Ent- und Umwertung einer ganzen Reihe geisteswissenschaftlicher Tätigkeiten, deren Folgen noch nicht abzusehen sind. Das einfache Lesen drängt an allen Stellen über sich hinaus, begierig nach Kontexten, kontextabhängig, in Zusammenhänge entgleitend, die das Buch hinter sich lassen. Die konzentrierte Anstrengung, sich dieses und nur dieses Buch zu erschließen, leidet, sie geht unter in der Anstrengung, zu ermitteln, wovon überhaupt die Rede ist.
Das elektronische Buch ist ein gelungenes Symbol dieser Situation: dass es massenhaft auf einem Träger zu horten ist, der es dem Leser weitgehend situationsunabhängig zur Verfügung stellt, entindividualisiert den einzelnen Titel und rückt das Corpus der lesbaren, das heißt verfügbaren Titel ins Zentrum der orientierenden Wahrnehmung. Die Bücher rücken zusammen, sie lassen die kulturelle Klammer spürbar werden, die sie immer schon unsichtbar zusammengehalten hat. Der einfache Leser ist nicht mehr Besitzer eines Buches, sondern einer Bibliothek, die er mit anderen teilt oder auch nicht: der Gestus des Teilens (und Teilhabens) ist ein anderer. Die Klammer besagt: dies alles wurde geschrieben, es klebt aneinander, geht auseinander hervor und ineinander über, und steht dennoch beziehungslos nebeneinander. Was immer ich aufrufe, kann mich eine Weile beschäftigen, muss es aber nicht, ich kann es jederzeit in die Fülle des Verfügbaren zurücksetzen und darin verschwinden lassen, ohne dass es mir abhanden kommt. Und selbst wenn es mir abhanden käme, wäre dies kein Verlust, denn es wäre jederzeit und an (fast) jedem Ort ersetzbar. Nein, diese Bücher kämpfen nicht um meine Aufmerksamkeit, sie wollen und können sich nicht darin behaupten, sie kommen in Rudeln und ermüden leicht, wenn ich mich zu sehr mit ihnen beschäftige, sie sind Teil einer spontanen Choreographie, die mit Diskussionen, Rezeptionen, Auseinandersetzungen und intellektuellen Kämpfen wenig zu tun hat, eigentlich nichts, denn das übergängliche Medium ist zu stark, zu präsent, um die Illusion der Abgeschlossenheit, des zwingenden Alternativenreigens zuzulassen.
Das gute Buch, das gepflegte, gedruckte, gehätschelte Buch leidet nicht, es verschwindet auch nicht, es behauptet sich als konzentrierter Ausdruck vergangener Bildungszustände, als ein Stück jener Rückwärtsorientierung, die in allem Handeln gegeben ist und ihm die Tiefe eines zusammenhängenden Weltverhältnisses verleiht. Was den Menschen an ihm gefällt, das sind sie selbst: ihr Bedürfnis, etwas festzuhalten, zu karessieren, der allgegenwärtigen Funktion ein Schnippchen zu schlagen, zu entkommen, zu überraschen, sich zu unterscheiden und vor allem: Altäre zu schaffen. Die Handlichkeit der Bücher verwandelt sie in ideale Platzhalter der magischen Vorrichtungen, die aus dem Bewusstsein zu verdrängen ihnen für eine kurze Spanne fast gelang. Wäre das alles, so könnte man darüber zur Tagesordnung übergehen. Aber so ist es nicht: erst die mitanwesende Vergangenheit macht die Gegenwart zur Gegenwart und die Zukunft zur Zukunft.