Worin liegt der Sinn dieser Erfindung? Sie macht dem Menschen etwas vor, eine Abhängigkeit, in der er lebt, die er aber nicht empfindet, weil er das, wovon er abhängig ist, als sein Eigenes – sein Eigenstes – betrachtet. Man muss es schon Tradition nennen, damit es aus ihm heraustritt und ihm in Gestalt von Ritualen entgegenkommt. Ansonsten wird es durch die Gesamtheit der Institutionen vermittelt, in denen der Einzelne sich bewegt. Es begegnet ihm also in der Stabilität dieser Institutionen, die er als Stabilität empfindet, das heißt als Eigenstabilität, als Stütze und eingewachsener Halt. Natürlich gibt es Institutionen, die mit ihrem Alter, das heißt mit ihrer Dauer protzen: an ihnen wird so etwas wie der zeitliche Aufriss dessen, was Halt gibt, sicht- und empfindbar, also so etwas wie die Zeittiefe von Kultur. Diese Kultur der ›Rückführung auf‹ ist etwas Merkwürdiges, weil sie ein genealogisches Schema benützt, um etwas anderes anzudeuten: einen höheren Grad an Sachhaltigkeit, an ›Güte‹ und ›Geltung‹ als den in der Allgemeinumgebung des Einzelnen anzutreffenden. Die Gleichung älter = besser, dieses Schema eines blinden Traditionalismus, ist offenbar eine Art Augenöffner für die Leistung dessen, was der Begriff des kulturellen Gedächtnisses umreißt. Man muss blind sein, um zu sehen. Das ›Bewahren der Anfänge‹ ist so ein blinder Spruch, der geflissentlich verschweigt, wo der Anfang zu suchen ist: im Paradies oder in der Vertreibung daraus. Dazwischen liegt die Schuld.
Natürlich wäre es ein Irrtum zu glauben, dass die Gleichung älter = besser bedeutet, das Ältere sei besser als das Jüngere, das in diesem Fall das Neuere heißt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Das beliebte Bild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen deutet es an. Wir sehen weiter, weil wir von den Einsichten vergangener Generationen getragen werden: das ergibt Kulturstolz, gepaart mit einem gewissen Bescheidenheitspathos, das es dem Einzelnen erlaubt, von der Arbeit nach Hause zu gehen und sich ein Schnäpschen zu genehmigen. Die Titanen sind tot und die Zeiten, für die wir Titanen sein werden, sind noch nicht angebrochen. Ob sie jemals anbrechen werden, ist ungewiss, darüber kann man nichts wissen. Je eindrucksvoller die Umbrüche, die wir durchleben, umso mehr wachsen die Chancen, sich ins kulturelle Gedächtnis ›einzuschreiben‹. Also nehmen wir Umbrüche wahr, wohin wir blicken. Die Zeit, die wir durchleben, ist eine Zeit des Umbruchs, was denn sonst? Anders zu leben, anders zu denken, anders zu empfinden hieße, die Zukunft zu verpassen und schon tot zu sein, bevor man es sich recht überlegt hat. Das beginnt in den Kindergärten und durchdringt alle Bereiche, die mit dem Begriff ›Kultur‹ asssoziiert werden.