Man kann den Funktionalismus so weit treiben, dass er gerade da nicht mehr funktioniert, wo er blendend zu funktionieren scheint. Es könnte sein, dass dies im Bereich der Anerkennung der Fall ist. Anerkennung ist, nach funktionalistischer Überzeugung, eine Funktion der Gesellschaft. Das leuchtet ein, da der Anerkennung, die sich ein Einzelner selbst spendiert, gerade das zu fehlen scheint, was die Sache ausmacht: das positive Erkanntwerden, das Erkanntwerden als die Person, die man zu sein wünscht. Dieses Erkennen ist nur von anderen zu leisten. Auch wer fromm ist, weiß das. Wenn er sich selbst zu erkennen glaubt, dann versichert er sich dazu der Gesellschaft Gottes. Sie muss ihn davor bewahren, von einem Teufel oder Dämon in die Abgründe des Selbstbetrugs gestürzt zu werden. Diese göttliche Gesellschaft besitzt gewisse Eigenschaften, die sie von anderen ›gesellschaftlichen Einbindungen‹ unterscheiden. Gott – jedenfalls der Gott der Monotheisten – ist kein Glied einer Gesellschaft, er ist Gesellschaft, die erste und umfassend privilegierte, in die sich begibt, wer ihn zum Gesellschafter wählt. Der anderen, der Gesellschaft der Menschen, schadet das dadurch entstehende Doppelverhältnis nicht. Sie kann sogar davon profitieren, weil sich in der Regel derjenige, der die Gesellschaft Gottes sucht oder gefunden zu haben glaubt, als ein verlässliches Glied der sozialen Gruppe erweist, verlässlicher jedenfalls als jemand, der dem Spiel folgt, das gerade angesagt ist, und allein aus ihm seine Anerkennung zieht. Eine ähnliche, vielleicht weniger den Schwankungen des Zweifels und der Glaubensneigungen unterworfene Festigkeit billigt man gern dem Vernünftigen zu, also dem, der sein Selbstverhältnis nicht auf ›äußere‹ Anerkennung baut, sondern auf die Anerkennung von Prinzipien. Es lebt sich gut in der Gesellschaft von Prinzipien, wenngleich nicht ungefährlich. Eine der Gefahren besteht sicher darin, die gesellschaftliche Anerkennung zu verpassen, nach der es das Sozialwesen Mensch dürstet.
Mit den Prinzipien kommt die Heuchelei nicht in die Welt, aber sie erhält durch sie ihre kanonische Form. Es genügt nicht, prinzipienfest zu sein, man muss es auch zeigen, um als prinzipienfester Mensch zu gelten. Wenn es also am Ende darauf ankommt, dafür zu gelten, ist es gut, den Prinzipien die Funktion vorzuordnen, erstere also zu entmachten oder zu unterwerfen: der vernünftige Untertan ist derjenige, der die Vernunft selbst in eine Untertanenfunktion rückt. Der vernünftige Freund, Liebhaber, Arbeitskollege, Parteigenosse ist der, der seine Grundsätze nicht über die der anderen stellt, sondern sich einsichtig zeigt: ohne Einsicht keine Vernunft, ohne Sich-einsichtig-Zeigen keine vernünftige Kommunikation, ohne Kommunikation keine Anerkennung, ohne Anerkennung keine Vernunft: das ist der Zyklus der sozialen Vernunft, der Vernunft als gesellschaftlichem Agens und als Funktion von Gesellschaft. Vernünftig ist, wer sich der Vernunft der Gruppe (›aller‹) beugt, also die Vernünftigkeit dessen unterstellt, was die Gruppe treibt. Das wiederum ist der Motor der Wissenschaft, die sich als ›gesellschaftliche Kraft‹ versteht und ›Anschlussfähigkeit‹ verlangt, der Motor von Partei- und Kirchentagen, der Motor des Kulturbetriebs, der bekanntlich ›ein Wahnsinn‹ ist, aber nur, weil er vernünftigerweise ist, was er ist. Die auf diese Weise in Verruf geratene Vernunft gilt als ›unabdingbar‹. Das meint der Vorrang der Verantwortungs- vor der Gesinnungsethik so wie der Vorrang der Funktion vor dem esse-percipi, der Selbstwahrnehmung dessen, der da ist und dies auf eine nicht-belanglose Weise zu bezeugen wünscht. Ob der Wunsch gerechtfertigt ist oder nicht, steht nicht in Frage, eher die Forderung, ihn zu rechtfertigen, die der Aufforderung gleichkommt, gefälligst das Maul zu halten – mit Kafka und feiner gesprochen: »Gibs auf!«