Man assoziiert das Wort ›Schriftkultur‹ mit frühen Hochkulturen, dem mesopotamischen Raum, den ägyptischen Hieroglyphen, den Schreibsystemen des alten China, also mit halbarchaischen, hieratischen (und hierarchischen) Ordnungen. Das Schreiben selbst besitzt in ihnen hieratische Bedeutung, es hält die Wege getrennt, es schafft Distanz, Nimbus, Verehrung, Gehorsam über biologische Abhängigkeiten hinaus. Dem gegenüber greift das Wort von der funktionalen Differenzierung: ›voll ausdifferenzierte‹ Gesellschaften behandeln das Schreiben und Schreibenkönnen als eine Grundfertigkeit, die jeder mitbringen muss. Es ist nichts Besonderes, der Schriftsteller umso mehr. Dieser Widerspruch liegt dem Beweisen-Müssen zu Grunde, er ist die Ursache eines Geltungsdrangs, der sich von dem eines Jongleurs oder eines Radprofis nicht grundsätzlich unterscheidet. Manchen genügt das. In solchen Kreisen ist das Wort ›Kunst‹ sehr verbreitet. Das gewöhnliche Artistenevangelium der Literatur zielt auf das, was Journalisten den ›Zirkus‹ nennen: wer die meisten Zuschauer anlockt, wer die Kassen zu füllen versteht, ist der Größte. Der funktional voll ausdifferenzierte Schriftsteller kann formulieren, dass sich die Balken biegen – seltsame Reminiszenz an die Fähigkeiten eines Orpheus oder Amphion, von deren Sangeskünsten nichts weiter überliefert ist als ihre phantastischen Wirkungen. Wer die, die schreiben können, zu Lesern degradiert, muss wohl ein Schriftsteller sein. An Zahl, Prestige und ›Können‹ der Schriftsteller lässt sich ablesen, wie hoch das Schreiben und Schreibenkönnen in einer Gesellschaft im Kurs steht. Die technikgestützte Re-Analphabetisierung des Lebens und der Prestigerückgang der Schriftstellerei sind danach zwei Seiten ein und derselben Sache: wo die Zahl der Sachkundigen schwindet, die seine Leistung beurteilen können, die sie überhaupt wahrzunehmen verstehen, verflüchtigt sich seine Gestalt und macht anderen Platz, die ihre Arenen zu füllen wissen.