Was geschieht, wenn ich (wie Mersmann) eine Sammlung von Erzählungen Kaleidoskopische Schriften nenne? Leser, die unter diesem Titel Abhandlungen zur Kaleidoskopie erwartet, werden rasch eines Besseren belehrt. Was bleibt, ist die diffuse Erwartung, in den Erzählungen selbst auf Kaleidoskopisches zu stoßen, sei es, dass in ihnen davon ›die Rede ist‹ (das wäre eine eher naive Einlösung des Titels), sei es, dass ihre Form oder Anordnung, ihr Aufbau oder die Strahlkraft ihrer Bilder an kaleidoskopische Prinzipien oder Eindrücke erinnert. Letzteres zu entscheiden bleibt dem Leser überlassen, dessen Lektüre dadurch eine suchende Unruhe beigemischt wird. Es fällt nicht leicht, sich kaleidoskopische Erzählweisen auszudenken, entsprechend schwierig ist es, die entsprechende Leseanweisung seitens des Autors ›umzusetzen‹. So bleibt die Frage, wie sinnvoll es für einen Leser ist, sich darauf einzulassen. Am Ende findet sich stets eine Analogie und wieder ist es der Leser, der entscheiden muss, ob sie ihm gesucht oder hergeholt oder sinnfällig erscheint. Wie immer man die Sache dreht, der kaleidoskopische Anblick entsteht im Auge des Betrachters, in diesem Fall des Lesers.

Man kann darin einen Erzähltrick sehen, die Vorspiegelung einer Erzählform, die es so nicht geben kann. Warum sollte ein Autor das tun? Die Antwort erscheint einfach: weil es die Lektüreerwartung und damit die Lektüre und damit die Erzählform selbst verändert, soweit sie die Lektüre zugänglich macht. Kaleidoskopische Erzählungen sind kaleidoskopische Erzählungen, wenn die Autor sie so nennt. Die Antwort auf die Frage, worin der kaleidoskopische Charakter der Erzählungen besteht, wird an die Lektüre zurückgereicht, die Antwort liegt im Auge des Betrachters. Man hat es also mit einer Leseanweisung zu tun, die möglicherweise leer ist: Lese so, dass das Gelesene dir wie eines (oder eine Folge) der Bilder erscheint, die du von Kaleidoskopen her kennst. Selbst darin kann sich der Leser nicht sicher sein. Ebenso gut könnte der Titel andeuten, dass der Autor sich schreibend der Technik des Kaleidoskops bedient hat – eine Aussage, die wiederum zu schwer fassbaren Analogien führt, da ein kaleidoskopisches Schreiben im Wortsinn nur schwer vorstellbar ist, jedenfalls angesichts ›wohlgeformter‹ Erzählungen, die mehr und anderes vom Erzähler verlangen als mechanisches Spiegeln und Schütteln.