Ästhetische Lektüren sind intensive Lektüren, in denen jedes Informationskrümel, das stört, auch als störend registriert und begutachtet wird. Es stört wirklich und wird, wenn es eine bestimmte Größe erreicht, zum Abbruch der Lektüre führen. Ein zerlesener Roman kann wundervoll zu lesen sein oder nur ›ekelhaft‹, das kommt auf die Faktur an, die Qualität des Papiers, die Art des Geruchs, der von den Seiten ausströmt. Ich erinnere mich noch an meine jugendliche Weigerung, den Doktor Faustus in einem bestimmten Bibliotheksexemplar zu lesen. Ästhetische Lektüren können kippen, und zwar an dieser Stelle: wer dennoch weiterliest, sammelt weiterhin Informationen, aber er liest nicht mehr. Lesen bedeutet in diesem Fall etwas nicht graduell, sondern grundsätzlich anderes als das gezielte Aufnehmen von Informationen. Es bedeutet, ein ganz eigenes Spannungsfeld aufzubauen, innerhalb dessen so merkwürdige Phänomene wie Selbstverlorenheit und Selbstgenuss zueinander in enge Beziehung treten. Die ästhetische Lektüre vollzieht sich nicht punktuell oder sequentiell, von Information zu Information, von Argument zu Argument fortlaufend, sondern integrativ: wer nicht irgendwie die erste Wortfolge, ihren Klang, die dichte Information, die sie enthält und die sich vielleicht erst gegen Ende der Lektüre in Plausibilitäten auseinanderlegt, im Weiterlesen noch präsent hat, der kann es auch lassen, er begreift ohnehin nicht, worum es geht, und langweilt sich nur im Dienst einer dubiosen Bildung. Zwar liest jeder zuviel (oder zuwenig), um nicht immer wieder in die Fallen der additiven Lektüre zu gehen, aber umso herber kritisiert er die Randbedingungen, denen er die Schuld daran zuschieben kann. Wer lesen kann und überdies Ohren hat zu hören, der weiß, dass die Lesebedingungen des digitalen Zeitalters einen prachtvollen Sündenbock liefern: wie soll jemand angesichts aufspringender oder bedächtig den gerade begonnenen Text überrollender Popup-Fenster, in einer mit aufdringlichem Werbedesign zugestellten Leseumgebung, in der überdies weder Schrift noch Durchschuss noch Rahmung ›stimmen‹, sich so auf den Text, angenommen, er fände einen, so konzentrieren können, wie es um einer intensiven Lektüre willen nötig wäre?
Solche Beschwerden sind berechtigt, aber falsch: teils zielen sie auf stümperhafte Präsentationen, teils auf die sichtbaren Anzeigen ökonomischer Randbedingungen, die sich mehr oder weniger durch alle Präsentationen im Netz ziehen. Puristen können sich ihre Leseumgebung in Maßen selbst gestalten. doch sie sind selten. Eher informieren sie ex negativo darüber, wie die Mehrzahl lesen will. Gerade die Ästheten unter den Lesern zeichnen sich durch gesteigerte Passivität gegenüber dem aus, was sie notorisch die ›steigende Flut‹ nennen: der Bilder, der Informationen, der Werbung, der auf einer Seite versammelten Reizmittel und überhaupt: der Beiträge selbst. Ihr lustvolles Leiden ist im Kalkül der Gestalter angekommen, es spiegelt und bespiegelt sich in dem, womit sie nicht fertig werden. Warum auch? Fürs besinnliche Lesen in stiller Abgeschiedenheit bleibt da wenig Gelegenheit, und wenn sich einmal jemand dazu versteht, dann befremdet ihn die plötzliche Reizarmut, ihm ist, als müsse er sich kneifen, um aufzuwachen, aber der Traum nimmt ihn fort und er begreift, wenn er ehrlich ist, dass aus den wunderbaren, kulturell wertvollen Lektüren Lektüre-Reminiszenzen geworden sind, in denen Wunsch und Gedächtnis ein Schauspiel aufführen, über dem die Worte stehen: Täusche dich selbst. Wer daraus den Schluss zieht, dass ›alles‹ Design geworden ist, der täuscht sich erneut, weil er die Aufgabe nicht erkennt oder nicht erkennen will, die der Literatur aus der gegebenen Situation erwächst. Diese Aufgabe besteht darin, die Schreibgewohnheiten der Bücherzeit als Reminiszenzen zu verstehen und schreibend zu marginalisieren, sprich: aufgehen zu lassen in einem Formenrepertoire, das aus den gegebenen Möglichkeiten erwächst, ähnlich wie die Newtonsche Physik einmal in der Quantenphysik aufging. Das bedeutet nicht, sich einfach des vorhandenen Arsenals der Blogs und Chats zu bedienen, zu twittern oder ein PDF ›ins Netz zu stellen‹. Gerade das bedeutet es nicht. Dass das Schreiben, allen Unkenrufen zum Trotz, in allen Formaten und Intentionen weiter wuchert, heißt nicht, dass das intensive Schreiben, das bis vor kurzem noch Dichtung hieß und heute im Deutschen keinen Namen mehr hat (wobei nicht ganz klar wird, ob damit der, die oder das Deutsche gemeint ist), sich angesichts der neuen ›Formate‹ erledigt hätte oder in ihnen ›angekommen‹ wäre. Nicht als hätte man an der Selbstdeutung von Leuten zu zweifeln, die angekommen sind oder sich angekommen wähnen, weil ihnen noch niemand gesagt hat, wie ihnen in zehn Jahren zu Mute sein wird. Neben diesen existieren andere, in denen die Unruhe des Gestaltens, des Gestaltenwollens und -müssens, sofern sie nicht erstickt wird, in Formen explodiert, die denen des kommunikativen Alltags insoweit Rechnung tragen, als sie die entstandenen Lesegewohnheiten nicht verleugnen oder überspielen, sondern offen kalkulieren. Dort, wo Schreiben und Sich-Aussetzen ineinander übergehen, steht es weder im Belieben des Einzelnen, sich dem Übergang zu verweigern, noch, sich im Übergang aufzugeben. Wer heute schreibt, schreibt, ob er will oder nicht, frühbarock: er hantiert mit Brocken, die gerade erst aus dem Wust der technischen Möglichkeiten auftauchen und sich deshalb weit von der eleganten Geläufigkeit entfernen, die wir aus den sich unaufhaltsam von uns entfernenden Weisen der literarischen Artikulation kennen. Das klingt misslich, aber es besitzt den Charme des Neubeginns.