Ich erwähnte das tragische Ende der mechanisch trennenden Buchseite: diese Schnitte ins Fleisch der Gedanken, des Wort- und Satzflusses haben nicht nur das Lesen geprägt, sondern auch das Schreiben. Das klingt zunächst widersinnig, da der Autor im Augenblick der Niederschrift nicht weiß, an welcher Stelle der Setzer oder das Satzprogramm abschneidet, was in der Folge kommen mag. Die Erwartung dessen, was noch kommt, ist der Buchseite ebenso inhärent wie das Wissen, dass nicht sie es enthält. Die Buchseite verdoppelt also eine Figur, die dem Lesen und Schreiben generell eignet und gewöhnlich unter der Formel des ›Aufschubs‹ thematisiert wird. Sie verdoppelt sie nicht nur, sondern interpretiert sie dadurch, dass sie einen physischen Akt verlangt, also einschiebt, der das Problem für den Lesenden löst. Dem Prosa-Autor ist dieser physische Akt geläufig, er rechnet mit ihm, auch wenn er nicht weiß, an welcher Textstelle er erforderlich sein wird. Er weiß es nicht genau, aber ihn begleitet eine unbestimmte Ahnung, die er gern in die Worte fasst: »Ich habe heute eine Seite geschrieben.« Eine Seite geschrieben haben bedeutet etwas anderes, als soundsoviele Wörter oder Zeichen aufgeschrieben zu haben, es bedeutet, ein Pensum erfüllt, eine bestimmte Denkleistung erbracht zu haben und morgen auf einem weißen Blatt, a blank sheet of paper (für die Eingeweihten) neu beginnen zu können. Es ist die Lust und der Gewinn des derart schreibend Denkenden, sich das Bewusstsein oder den Geist des Neugeborenen als ein leeres Blatt vorstellen zu dürfen, es zeigt die Wiedergeburt im Geiste an, die sich mit dem Anbruch jeder neuen Seite vollzieht. Ob das Blatt wirklich leer ist, ob nicht das Schicksal bereits mit unsichtbarer Tinte vorgeschrieben hat, was der Schreibende durch seine Kunst nun nach und nach zum Vorschein bringt, fügt der Symbolik des Blattes eine weitere, nicht unerhebliche Komponente hinzu. Das Blatt hat sich gewendet – noch ist jedem geläufig, was dieser Satz bedeutet, aber die Bedeutung verblasst zusehends und wird irgendwann nicht mehr als eine kulturhistorische Reminiszenz sein. Was bleibt, ist das tägliche Pensum: den Titanen des Schreibens, die es auf dreißig Seiten täglich bringen, schlägt neben der Bewunderung ein geheimes Grauen entgegen, weil jeder instinktiv weiß, dass sie für Geld tun, was um der Besinnung und der Selbstfindung willen getan werden müsste, und dass sie dafür aus jener göttlichen Mimesis herausgetreten sind, die das Schreiben als eine geistige Übung erst möglich macht. Was also, wenn die Begrenzung des Schreibens durch das Blatt zur Gänze entfällt? Diese Erfahrung ist, historisch gesehen, neu, aber sie wird von vielen geteilt, die nicht länger vor sich selbst so tun, als schrieben sie noch auf Papier – obwohl, wer weiß... Man weiß wenig über die stillen Rituale der anderen, man kann sich nur selbst über die Schulter sehen. Im Schreibenden nistet der Aberglaube, der ihm befiehlt, das Aufgeschriebene nicht an einem Punkt zu verlassen, an dem sich der Gedanke allzusehr rundet, aus Angst, den Anschluss nicht mehr zu finden. Man könnte diese Angst einen metaphysischen Restbestand nennen oder eine magische Furcht. Tatsache ist, dass sie existiert. Das mechanische Auflegen eines neuen Blattes, dem das gedankenlose Umblättern der Seiten durch Generationen von Leser entspricht, korrespondiert der Erwartung des Neuen, das schon da ist, bevor es beginnt, embryonal, unausgefaltet, aber bereits angeschlossen an das, was am Vortag oder vor aller Zeit fixiert wurde.