Nochmals: ist das wichtig? Der Bücher schreibende Autor hat damit kein Problem, er hat einen Teil seiner Aufgabe an das System überwiesen und wundert sich allenfalls über die Vielfalt dessen, was die Leute aus seinem Buch herauslesen. Erst wenn er plötzlich kein Buch mehr schreiben kann, melden sich die Bedenken, meldet sich Zweifel an seinem Tun. Der Kern dieses Tuns (und der Unbestimmtheit aller Lektüre) liegt im Weiterschreiben, das dem Blättern der Leser entspricht: im mechanischen, sprich gedankenlosen Überspielen der unsichtbaren Distanzen, die Gedanken und Sequenzen von Gedanken voneinander trennen. Wenn ich ›Gedanke‹ sage, dann gebe ich dem Wort einen umfassenden Sinn: alles, was mir ›durch den Kopf geht‹, ist ein Gedanke. Ein literarischer Gedanke, ein dichterischer Gedanke ist vielleicht etwas anderes als ein philosophischer oder ein Allerweltsgedanke, aber er ist ein Gedanke. Das fein abgestimmte Gliederungssystem eines Buches ist ein Auffangsystem, das die Unerträglichkeit dieser Schreib- und Lektüreform mindert, aber nicht gänzlich aufhebt, weil es an der Grundform des Weiterschreibens und -lesens nichts ändert. Jede Seite hebt die vorangegangene auf, ohne dass jemand den Grund dafür einsähe. Der Grund ist ein ästhetischer: er zeigt sich darin, dass literarisches Lesen ›zunächst‹ nichts weiter ist als gesammelte und gespannte Aufmerksamkeit. Das Gesammeltsein ist in diesem Fall buchzentriert, es nimmt die Grundstruktur dessen, was sich der Lektüre darbietet, auf, das Gespanntsein ist textzentriert, es treibt die Lektüre voran. Deshalb lesen Menschen am liebsten Krimis, sobald in der allgemeinen Leseerwartung die Form des Sachbuchs die des literarischen Buches überwiegt, sobald ihnen das Buch als Buch nichts mehr sagt. Sie haben das Gefühl, hier kommt ihr Wunsch, auf eine klare Frage eine kommunizierbare Antwort zu erhalten, auf seine Kosten und – sie haben das Buch ausgelesen, wenn die letzte Seite erreicht ist.
Das System Buch produziert Unbestimmtheiten, die tiefer in die Rezeption einsickern, als es Leser wahrhaben wollen, die aus dem Argument nur den Zweifel an ihrer Lesefähigkeit heraushören. Sie nehmen es aber wahr, sobald sie sich in einem Medium zu bewegen gelernt haben, das ihnen ein plötzlich zum Übermaß gewordenes Muss an Lesekultur erlässt. Was bedeutet das für jemanden, der schreibt, nicht um Informationen abzusetzen, die weitgehend formatresistent sind, sondern zum Beispiel, um den Gedanken des täglichen Pensums bei sich und anderen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? (Wer vor zwei Jahrzehnten gedacht hat, diese Art Literatur sei auf Grund der Medienrevolution am Ende, hat sich ebenso gründlich getäuscht wie die kulturrevolutionären Garden des Westens in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern des Jahrhunderts, das man heute das letzte nennt.) Es bedeutet zunächst, dass er sich von der Buchform nicht einen Teil seines Denkens abnehmen lassen darf. Ein Buch schreiben bedeutet nicht mehr, eine Welt in der Nussschale darzubieten, über das Buch und seine inhärenten Möglichkeiten nachzudenken bedeutet nicht länger, über die Welt nachzudenken, es bedeutet auch nicht länger, über das schreibende Ich nachzudenken und seine Idiosynkrasien zu verwalten. Was heute über Bücher, ihre organisatorische und lebensbestimmende Macht geschrieben und geforscht wird, verwandelt sie unwiderruflich in Objekte einer historischen Neugier, die sich nur peripher von der nach dem magischen Schriftgut des Corpus hermeticum unterscheidet.