Zu den bekannten Effekten von Netzseiten zählt ihr Worthunger: Prosatexte, in sie eingespeist, kommen den Lesern drastisch kürzer vor als in der üblichen Buch- oder Zeitschriftenform. Das Blättern hält auseinander, es spreizt auf, was zusammengehört, und es ist keineswegs das Nachdenken, das zwischen die Seiten tritt, sondern die durch Routine und Geisteskraft ein Stück weit aufgehobene Schwerfälligkeit und Schwierigkeit der durch sie ermöglichten Lektüre. Schon wieder vergessen zu haben, was auf der vorigen Seite stand, ist nicht nur eine Klage examensbanger Studierender. Die Netzseite erlaubt das intensivere Lesen, weil sie das Lesen erleichtert. Wer scrollt, pausiert nicht mit der Lektüre. Darin liegt ein Vorteil, der bedacht sein will, weil er sich keineswegs von selbst einstellt, sondern seinerseits an formale Bedingungen anschließt. Um sie in den Blick zu nehmen, muss man die unter Kommunikations- und Schrifttheoretikern beliebte Vorstellung von der Linearität der Schrift verabschieden: dass Lesen etwas komplexer funktioniert, dass es, mit Husserl gesprochen, Re- und Protention, also Rück- und Vorlauf nicht nur in linearer Hinsicht benötigt, dies zu erfahren genügt ein einfaches Experiment. Ein Text, in einen vollkommen linearen Verlauf gestellt, erweist sich nicht etwa als besser, sondern als nur unter erheblichen Mühen lesbar. Am Computer ist das leicht simulierbar – scrollen lässt sich ebenso gut in der Horizontale wie in der Vertikale. Wer darin nur Gewöhnung sehen will, möge bei seiner Ansicht bleiben. Tatsache ist, dass Lesen die zweite Dimension braucht, dass es sich in ihr mit annähernd gleicher Intensität orientiert. Dazu ein weiteres, in der Praxis schwieriger auszuführendes Experiment. Wer ein Auge verliert, verliert auch ein Stück Lesefähigkeit: die Vororientierung in der Fläche ist drastisch reduziert, das Auge ›klebt‹ an der Zeile, das Lesen verlangsamt sich, benötigt Pausen der Nachdenklichkeit – was in bestimmten Berufen von Vorteil sein mag –, die Buchförmigkeit des Geschriebenen tritt zurück. Das einsam zurückgebliebene Auge giert nicht nach Einschnitten, sondern nach sinnhaften Abschlüssen, nach denen es weiter gehen kann, aber nicht muss. Das ›klassische Buch‹ ist ein Zwei-Augen-System.