An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich mit der Linearität/Simultaneität ›virtueller‹ Lektüren zu befassen. Wie der Begriff des Virtuellen gehört auch das Begriffspaar linear/simultan einer frühen Phase der Beschäftigung mit ›elektronisch‹, durch digitale Verfahren gewonnenen Textbildern an. Die Schnelligkeit des Bildaufbaus, der leichte und punktgenaue Wechsel zu neuen Ansichten und ›Seiten‹, die Leichtigkeit der ›Präsentation‹ überhaupt erregt das Staunen eines ungeübten, mit den Techniken des Hervorholens, Blätterns, Beiseitelegens vertrauten, die leichten oder schweren Mühen der Beschaffung von Büchern und Informationen blind voraussetzenden Publikums. Die ungewohnte, noch nicht habitualisierte Leichtigkeit lässt die neuen Verfahren ›unwirklich‹ erscheinen und nach Elementen suchen, die diese Anmutung untermauern. Der bedeutungsvoll vorgetragene Verweis auf die Maschinenschrift als das ›reelle‹ Substrat des Bildes, dem Leser ungefähr so hilfreich wie eine Belehrung über die technischen Feinheiten der Gutenberg-Presse, besitzt eine ähnliche Dignität wie der auf die Simultaneität der ›abrufbaren‹ Inhalte und der durch sie ermöglichten Lektüren. Sie beruht auf jener unbegreiflichen Verwechslung von Gleichzeitigkeit und Zeitgleichheit, der sich eine zerstreute Zeitgenossenschaft zur gleichen Zeit mit Leidenschaft hingibt. Zeitgleiche Abläufe, auch wenn ihre Dauer ›gegen Null tendiert‹, generieren keine Gleichzeitigkeit. Sie bleiben eingebettet in Zeitumgebungen, die variieren können, wenngleich nicht müssen.
Lesen ›funktioniert‹ weder linear noch simultan, es integriert und antizipiert, und zwar an jeder Stelle, ohne eine andere Unterbrechung als die des Lesevorgangs selbst. Diese integrierend-antizipierende Funktion wird durch den Gegenstand (die additive, von Zeile zu Zeile, von Seite zu Seite ›umschlagende‹ Buchstabenreihe, die am Ende ein ›Ganzes‹ ergibt) nahegelegt und strukturiert, aber nicht ausschließlich, noch nicht einmal überwiegend. Was sich von selbst versteht, verlangt keine besondere Aufmerksamkeit. Das Besondere der Schrift besteht darin, dass sie in der Lektüre zurücktritt und den Text freigibt, das Besondere des Textes, dass er im Leser zurücktritt und dem verknüpfenden Denken Raum lässt, das weder mit dem freien Spiel der Assoziationen noch mit dem ›Aufrufen‹ anderer Lektüreinhalte identisch ist, aber exakt dem entspricht, was der Ausdruck ›Lektüre‹ umfasst. Die Lektüre erzeugt kein Abbild und keine Simulation des Textes ›im Kopf‹ oder in Gestalt abgelegter Erinnerungskeime, sondern einen Ideenkomplex, der hinfort ebenso sehr für den gelesenen Text steht wie für etwas ›Gelerntes‹ oder ›Begriffenes‹ oder bei der Lektüre Empfundenes und auf diese Weise Angeeignetes. Wie einer liest, ob ›sklavisch‹ Zeile um Zeile, ganzheitlich erfassend oder blätternd-sprunghaft, ist demgegenüber vollkommen gleichgültig, es kommt erst dort in Betracht, wo das Angeeignete verglichen wird: im Abfragen, im Spiel der Andeutungen unter ›Gebildeten‹, im gelehrten Gespräch.