Wohin geht das? Gut möglich, dass ›wir noch gar nicht gelernt haben, am Bildschirm zu lesen‹, dass ›wir‹ auch nach Jahrzehnten der Gewöhnung noch Analphabeten oder frühe Verzweifelte dieser Art von Lektüre sind, die ihre Simplizitätspole unwillkürlich hervorheben und verstärken, um sie schließlich für die Sache zu halten. Diese Pole sind die reine Informationsvermittlung (Text, Bild, Ton, Film), die einfache ›Navigation‹ sowie der ebenso prompte wie mühelose Zugang zu den Netzinhalten im Allgemeinen. Auf der anderen Seite ist keineswegs ausgemacht, welche Veränderungen den Wiedergabegeräten, ihrem Aussehen, ihrer Lesbarkeit und ihrer Programmausstattung noch bevorstehen, ehe sie zu so etwas wie einer ausdifferenzierten Normgestalt tendieren können (die beim nächsten Technologieschub wieder anderen Normgestalten zu weichen hätte). Was bedeutet, dass der gegenwärtigen Netz-Flora und -Fauna noch die eine oder andere Eiszeit bevorsteht. Finden wir uns also damit ab, dass alle bisher zugänglichen Produktionen in diesem Medium, die eigenen eingeschlossen, Monster sind, prähistorische Ungeheuer, wie sie an Wendepunkten der Technologiegeschichte eine Zeitlang aufzutauchen pflegen, gleichgültig, wie wir uns anstellen, und gleichgültig, welche Ziele wir dabei verfolgen. Die zeitgenössische Wahrnehmung des Mediums selbst ist monströs, verschweißt mit Neben-Aufmerksamkeiten und kindischen Reflexen, soll heißen, unabgeschliffen und eines entwickelten Bewusstseins im Grunde unwürdig.

Ein solcher Zustand gestattet Freiheiten, die ›im Grunde‹ schon vergeben sind, weil der Intellekt sich völlig darüber im klaren ist, was bei ihrer Ausübung herauskommen wird. Unter dieser Situation leidet ein Großteil der heutigen Kunst, nicht, weil sie zu schlicht gedacht wäre, sondern weil ihre Aus- und Aufführungspraxen keine Spielräume mehr erschließen, die zu den neuen symbolischen Netzen in ernsthafte Konkurrenz treten könnten. Wer heute schreibt, ist in vielem damit beschäftigt, sich und anderen in die Verhältnisse, unter denen das Schreiben und Publizieren seinen zeitgenössischen Gang geht, hineinzuhelfen: durch Reflexion, durch die Erfindung und Erprobung von Formen, durch sein bloßes Beispiel, durch seine Siege und Niederlagen, selbst durch die Art, in der er sich und andere zum Gespött macht. Lesespiele tragen dieser Situation Rechnung. Durch ihr bloßes Vorhandensein machen sie auf sie aufmerksam und tragen den Notwendigkeiten der Neukonditionierung des Leseblicks Rechnung, ohne etwas antizipieren zu wollen. Im Gegenteil: sie rollen dem antizipierenden Blick jene Brocken in den Weg, die ihn daran hindern, zu flunkern und der gegenwärtig möglichen Lektüre dadurch auszuweichen, dass er sich Leselandschaften im Futur entwirft, ohne eine einzige davon zu betreten.