Das Buch wurde noch nirgends zu Ende gedacht: das, nicht die Trivialität, dass man immer Bücher drucken wird und dass sich immer Leute finden werden, welche zu schreiben, wäre der Sinn der hier und da zu lesenden Aussage, dass es vorzeitig verabschiedet wurde. Sicher ist es die Buchform, die das Ge- und Erschriebene zwischen zwei Buchdeckel setzt und damit radikal in zwei Richtungen begrenzt: gegenüber dem Bestand an Geschriebenem, an den es anknüpft, indem es einen neuen Anfang setzt, und gegenüber dem, was künftig an es selbst anknüpfen wird, indem es dieses Buch als solches respektiert, das heißt als Einheit für sich bestehen lässt, die zwar gestattet, dass man sich auf sie bezieht, aber nicht erlaubt, weiter gespannt zu werden: das eben heißt es, ein neues Buch zu schreiben, einen neuen Wurf zu wagen und zur gegebenen Zeit vorzulegen. Das berührt nur am Rande die Frage des geistigen Eigentums, es ist vielmehr eine Eigentümlichkeit der Buchform selbst, die, gleichgültig um das, was der Autor will, einen abgeschlossenen und erschließbaren Inhalt suggeriert. Als Schlüssel dazu dient der Titel. Die Katastrophe, die einträte, wenn von den Titelseiten aller gehorteten Bücher über Nacht die Titel verschwänden, beträfe nicht nur die bibliothekarische Ordnung, sondern die Ordnung der Lektüre und damit des Buches selbst: auch die Autoren wüssten am Ende nicht mehr, worum genau es in ihren Büchern ging. Erst der Titel stellt den Inhalt eines Buches scharf, auf dass es sich erfolgreich zwischen anderen Titeln behaupte.

Exakt diese Katastrophe wird von Autoren heraufbeschworen, die es sich angelegen sein lassen, jedes Buch, das ihre Werkstatt verlässt, als Etappe in einem umfassenden Prozess der Weltaneignung auszuzeichnen, dem sie schreibend zugewandt bleiben. Im Prinzip könnten sie ihre Bücher, statt sie mit Titeln zu versehen, gleich durchnummerieren oder mit einem der üblichen Nonsenstitel versehen, wie sie jedes Verlagssortiment bereithält. Was sie herausfordert, ist also die Buchform selbst, teils, um sie zu bedienen – schließlich schreiben sie Bücher –, teils, um sich mit ihr zu duellieren und die Schwierigkeiten des Schreibens willkürlich zu erhöhen, bis es zu einer Existenzfrage für sie selbst wird, irgendetwas ›zu Papier zu bringen‹, ›dennoch‹ weiterzumachen, die ›Schreibhölle‹ zu bestehen und das radikale Ausgeliefertsein der schriftstellerischen Existenz täglich neu zu erfahren – immer mit dem Ziel, das nächste Buch oder den nächsten Band folgen zu lassen, dem alsbald der übernächste folgen wird, bis das Ende die letzten hingeschriebenen Worte in einen neuen Bedeutungskosmos hinübergleiten lässt wie die Atemzüge eines Sommertages.

Warum ist es wichtig, so zu schreiben? Was kann so bedeutsam daran sein, dass die Verlage und die anhängende Kritik den Autoren, die sich diesem Experiment verschrieben, jahrzehntelang gleich selbst das Etikett ›wichtig‹ umgehängt haben? Weder Vergil noch Dante, weder Goethe noch Stendhal waren in diesem Sinne wichtige Autoren, obwohl sie zweifellos in unserer Vorstellung als Buchautoren herumgeistern. Das experimentum librorum ultimum macht sich eine Eigenschaft der Bücher zunutze, die noch vor der mechanisierten Buchherstellung liegt, aber durch sie zu ungeahnten Anwendungen gelangt: die Möglichkeit von Buchdeckel-Synthesen. Autoren des achtzehnten Jahrhunderts mit dem leidenschaftlichen Willen, eine Schriftsteller-Existenz zu führen, verfielen auf den Gedanken, die Strecke, die sie den Lesern zumuten wollten, als Umweg, als ›Abschweifung‹, als ›Zeitvertreib‹ ohne festen Inhalt zu konzipieren. Was dem klassischen Geschmack missfiel, stimulierte die Leselust und -sucht der Zeitgenossen ungemein. Hinter dem Konzept steht die schwer bestreitbare Tatsache, dass zwischen den Deckeln eines Buches, das zu schreiben bereits beschlossene Sache ist, währenddessen der Inhalt noch aussteht, eine Leere herrscht, die beliebig gefüllt werden kann. Kein Thema, für sich genommen, enthält die Nötigung, soundsoviele Seiten auf seine Behandlung zu verwenden. Dementsprechend geht die Erzeugung von Lesestoff mit der Erzeugung von Weltstoff einher: Schriftsteller ist, wer einem Publikum seine Welt durch den sanften Druck der Buchstaben aufnötigen kann. Natürlich spielt die Verkaufsform dabei eine unübersehbare Rolle. Schließlich handelt es sich um einen Komplott zwischen Verleger, Autor und Buchhändler. Es ist der Verleger, der dem Autor soundsoviel zu einem handlichen Preis bedruckbare, also leere Seiten anbietet, die darauf warten, geschrieben zu werden, es ist der Autor, der auf dieses Spiel eingeht, der nicht zu wenig und nicht zu viel schreibt, um Kalkulation und Verkauf nicht zu gefährden. Autor ist, wer weiß, was von ihm erwartet wird, und sich darauf einlässt: das gilt in Bezug auf sein Publikum, aber zunächst einmal gilt es in Bezug auf seinen Verlag, denn: ohne Buch kein Autor.

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