Ein solches Buch, das aus der Leere kommt, nennt man seit dem neunzehnten Jahrhundert einen Roman. Der Roman als ›Welt‹-Buch münzt das biblische Bild vom Buch der Schöpfung in den Anspruch aus, die Welt buchförmig zu gestalten, so dass auch Drucker und Buchbinder ihren Anteil daran bekommen. Diese Welt besitzt, anders als die der Enzyklopädien, keinen bestimmten Inhalt. Die Festigkeit der Form als gegeben betrachtet, lässt sich der gestalterische Auftrag an den Festmetern aus Lust und Qual ablesen, die es dem Autor einträgt, sie zu füllen – jenem auch wirklich als Ertrag seiner Schreibexistenz angesehenen Seelenstoff, angesichts dessen die Bezahlung, wiewohl in vielen Fällen überlebensnotwendig, kaum in Betracht kommt. Genug gelitten – mit einem Seufzer, der den Stolz und das Pathos des einsamen Stellvertreter einschließt, der keineswegs die Demut zu seiner Haupttugend erwählt hat, geht dieses Ur- oder Abziehbild des Autors auf den Markt – das heißt, er signalisiert dem Verlag: Es ist vollbracht. Er mag sich darin täuschen, nicht umsonst legt er sein Werk vertrauensvoll in die Hände eines Lektors, der zwischen der individuellen Leistung und dem professionellen Anspruch des Gewerbes vermittelt. Einem Autor ›Professionalität‹ zu bescheinigen heißt: er macht dem Lektor – und der Werbeabteilung – die Arbeit leicht. Seine ›Welt‹ ist vermittelbar.
Was genau ein Roman – der Roman – ist, darüber entscheiden Erwartungen. Im voraus entschieden ist allerdings die Frage, was Literatur sei: ›Literatur machen‹, das heißt unter solchen Umständen nichts anderes als Romane schreiben. Wer gut ist, wer sich einen Namen erschrieben hat, darf irgendwann seine Jugendgedichte oder ihr Alters-Imitat als Zuckerguss obenauf legen, auf dass sein Œuvre sich runde. Ob etwas ein Roman ist, entscheidet sich daran, ob es als Roman erkannt, das heißt wiedererkannt wird. Ob man einen Roman des Autors x in der Hand hält, entscheidet sich daran, ob eine hinreichende Zahl von Menschen sein Personal, seine Art von Plots und Beschreibungen, seine Ticks und Tricks wiedererkennt, die Art der Schwimmbewegungen, um es im Bild zu sagen, die er sich angeeignet hat, um sich in seinem Geschäft über Wasser zu halten. Dieses Wiedererkennen sollte Überraschungsmomente einschließen, etwas, das einen ›als Leser beschäftigt‹, besser noch ›aufwühlt‹, wie es so unnachahmlich über diese Art der Beschäftigung heißt: die Erinnerung an eine befriedigende Lektüre ist der beste Erfolgsgarant für die ausstehende. Aber auch die Diskrepanz zwischen dem Ruf eines Autors und der Enttäuschung durch seine Bücher kann stimulierend auf die aktuelle Lektüre einwirken, sei es, dass man ihn ›jetzt begreift‹, sei es, dass die Enttäuschung neue Nahrung und damit Bestätigung findet. Eine Meinung über einen Autor besitzen bedeutet fast ebenso viel wie ihn als Romancier enttarnt – und rubriziert – zu haben.
Ein Roman ist ein Roman: dergleichen Platitüden rahmen das mysterium tremendum der Literatur, wie sie im Buche steht. Seltsamerweise macht das Netz-Tagebuch, ›Weblog‹ oder kurz ›Blog‹ genannt, in dieser Hinsicht dem Roman Konkurrenz. Der Blog repariert sozusagen den Fehler des klassischen Tagebuchs, das ein Feld privater Aufzeichnungen bleibt, selbst wenn Teile daraus irgendwann veröffentlicht werden: die Leser-Erwartung, einen Blick hinter die Kulissen einer bestimmten Existenzform, etwa der des Schriftstellers, zu werfen, ist unausrottbar. Wird sie nicht bedient, schlägt sie in das vernichtende Urteil um, diese Publikation hätte der Autor sich schenken können – aus vielerlei Gründen, sei es, dass sie die gähnende Leere hinter der persona des Autors enthüllt, sei es, dass das Zurechtgemachte, der Fassaden- und damit Fiktionscharakter der Aufzeichnungen unübersehbar mit der Erwartung kollidiert. In diesem Sinn ist der Blog keinen Augenblick lang ›privat‹. Die vornehme – oder vorsichtige – Attitüde eines Tagebuchschreibers, der seine Aufzeichnungen, jedenfalls fürs erste, zurückhält, geht dem Blogger, bei dem jede Notiz nur einen Tastendruck von der Publikation entfernt ist, vollkommen ab. Eher drängt sich der Eindruck auf, einem Exhibitionisten bei seiner Tätigkeit zuzusehen: nolens volens stellt sich beim Leser das Scham- oder Taktgefühl ein, das der Autor offenbar vermissen lässt. Doch dieser Eindruck vergeht rasch. Geübte Weblog-Leser haben sich daran gewöhnt, nicht auf die Suggestion von Privatheit hereinzufallen, die von der Form der Aufzeichnung ausgeht. Sie kennen die Maske der Privatheit wie irgendein Romanleser und stellen sie, wie der Romanleser, nur dort in Frage, wo sie hoffen, einen Zipfel unverhüllter Wirklichkeit zu erhaschen. Gerade darin möchten sie frei sein: was ›wirklich so‹ sein könnte, unterliegt der Deutung, weil an solchen Stellen die Empfindung anschlagen muss, ohne die keine Realität existiert. Es überrascht daher nicht, dass dieser Zwitter aus Aufzeichnungs- und Publikationsform von derselben Kategorie von Autoren gierig aufgegriffen wird, für die bereits der Roman das Nonplusultra der Literatur darstellte und zum Teil immer noch darstellt. Dieselbe Art von Leere herrscht diesseits und jenseits des Grabens, der die ›klassische‹ Romanschreiberei vom Blogbetrieb trennt: die täglich zu füllende Fläche, die dennoch, in einem nicht unbedeutenden Sinn, leer bleibt.