Unter den Weisen, sich die Zeit zu vertreiben, gehört das Alphazet zu den angenehmeren. Aus gehöriger Distanz betrachtet, fällt es in die Klasse der Scheinlexika: statt über die Grundbedeutungen der Wörter aufzuklären, fügt es ihnen neue hinzu oder unterwirft die angestammten einer Revision, die ihre Alltagstauglichkeit nicht in jedem Fall erhöht. Dass die Verfasser auch vor Neologismen nicht zurückschrecken, hilft den Eindruck abzurunden, hier gehe ein Autorenteam seinem Privatvergnügen nach, ohne Rücksicht auf den Informationsbedarf der Mitwelt zu nehmen, der rasch und ohne Umschweife befriedigt zu werden wünscht. Eine Lesefalle also, aufgestellt im Netz der Netze, wo sonst, allerdings gibt der Lockstoff, einmal wirksam, alles andere als private Signale. Lexika enthalten per definitionem die Welt noch einmal: dass sie im Ruf der Trockenheit stehen, sollte allen Weltgläubigen zu denken geben, die aus dem Leben einen Imperativ machen und, wenn überhaupt, nur eine aufwühlende Lektüre zu pflegen wünschen. Trocken ist, was einer bereits weiß oder zu wissen glaubt oder nicht zu wissen wünscht, jedenfalls nicht innerhalb der Zeit, die er zur freien Verfügung besitzt, also das falsche Wissen zur falschen Zeit. Entsprechend dankbar greift, wer sich aus dem Spiel geworfen sieht, weil eine Unkenntnis ihn bremst, auf jenes unvermittelt zur richtigen Auskunft mutierte Lexikonwissen zurück. Scheinlexika, die ihre Leser an dieser empfindlichen Stelle treffen, weil sie zum richtigen Zeitpunkt die falsche Auskunft erteilen, werden nicht als Zeitvertreib wahrgenommen, sondern als Zeitverschwendung. Schließlich soll im gegebenen Fall nicht die Zeit, sondern die Unkenntnis vertrieben werden – und zwar rasch, auf der Stelle. Niemals erscheint die Zeit so kostbar wie angesichts der Drohung, sie zu verschwenden.

Vorausgesetzt, man betrachtet Lexikonleser als Patienten, also als Leute, denen etwas fehlt, so spielen Scheinlexika mit der Geduld ihrer Patienten. Sie fordern die Ungeduld heraus, um sich mit ihr zu duellieren, und niemand kann wissen, wie oft sie in diesen intimen Kämpfen verlieren oder siegen. Wer Scheinlexika liest, verliert sich und findet kaum anders heraus als durch den knapp werdenden Faktor Zeit – angesichts einer verlorenen Lektüre wird irgendwann alles wichtig und erlaubt keinen Aufschub. Schlimmer: er findet weder in noch außer sich eine Instanz, die ihm beglaubigt, etwas nachgeholt oder geleistet zu haben. Wer drei Wikipedia-Artikel in Folge konsumiert hat, sonnt sich möglicherweise im Bewusstsein, wieder mitreden zu können. Wer auf Seite 531 des Mann ohne Eigenschaften sich vom Leben einholen lässt, trennt sich von seiner Lektüre in der festen Überzeugung, ein kulturelles Pensum bewältigt zu haben, aus dem sich Ansprüche herleiten lassen. Ein Scheinlexikon verweigert jede Auskunft darüber, ob und inwiefern seine Lektüre von Nutzen sein könnte. Da hilft auch kein Artikel ›Nutzen‹ weiter, selbst für den Fall, dass ihn jemand verkehrt herum buchstabierte. Scheinlexika sind – unter Lektüre-Gesichtspunkten – Löcher, in die sich die Zeit ergießt. Deshalb wirken sie unfertig, solange der Eindruck entsteht, es wäre möglich, sie auszulesen. Der Gedanke, die Zeit könnte am anderen Ende wieder austreten, besitzt etwas obszön Erheiterndes, das unbedingt zu vermeiden ist. Natürlich wäre es denkbar, sich vom einen bis zum anderen Ende durchzukämpfen – eine athletische Leistung, vergleichbar mit der von Atlantikschwimmern oder Dauervöglern, die einem Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde nachjagen, ein Akt des Snobismus ohne jedes weitergehende Interesse. Unter kulturfähigen Prestige-Gesichtspunkten ist die Lektüre von Scheinlexika also verloren, der Pakt zwischen Autor und Leser, angesichts des zu erwartenden Reibachs halbe-halbe zu machen, kommt aus irgendeinem Grund nicht zustande.

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