Lexika – und damit auch Scheinlexika – gehören zu jenen Dinosauriern der Moderne, deren Absterben gern prophezeit wird, während sie sich längst in ihrer Nachexistenz eingerichtet haben und nicht ans Abtreten denken. Sie sind, was sie immer auch waren: Filter, die das begrenzte Fassungsvermögen der Leser strapazieren, aber nicht überstrapazieren. Sie erlauben eine Teilhabe an der wissbaren Welt, die sonst nicht denkbar wäre, und sie haben, vor allem in ihrer Frühzeit, mitgeholfen, diese Grenzen hier und da zu verrücken. Nirgends drückt sich das Verlangen nach Teilhabe deutlicher aus als in der Wikipedia, diesem robusten Instrument des informationswilligen Durchschnittslesers. Wer etwas besser weiß oder zu wissen glaubt, ist aufgefordert, den vorhandenen Eintrag nachzubessern, jedenfalls zu verändern, und kann dies auf der Stelle tun. Die Wikipedia ist das erste und vermutlich einzige Gemeinschaftsprodukt der ›Leute‹ – keiner Gruppe von Experten, Fanatikern, Bartträgern, Parteigängern oder Hasenzüchtern, sondern der Menschen ›dort draußen‹, die hier drinnen einen ihresgleichen besitzen, von dem sie ebenso wenig wissen wie er von ihnen. Das hat seinen Reiz, aber es nährt den Verdacht, es in Wahrheit mit einem Desinformationsmedium zu tun zu haben, in dem ein Glauben-zu-Wissen sich mit einem anderen betrügt. Wie das Netz selbst ist die ›interaktive Wissensplattform‹ Lexikon und Scheinlexikon in einem. Das ist übrigens nichts besonderes, es gilt mehr oder weniger für jeden menschlichen Gedächtnisträger, die klassischen Enzyklopädien bieten die ergötzlichsten Beispiele für das, was man gern ›veraltete Vorstellungen‹ nennt. Selbst die aufopferungsvollste redaktionelle Arbeit kann nicht verhindern, dass ein Wissensanspruch an den ›Vorstellungen‹ zuschanden wird, die notwendig produziert werden, wenn er eingelöst werden soll. Jedes Symbolwissen – das der Mathematiker immer ausgenommen – ist nur ein Scheinwissen, das innerhalb eines bestimmten Rahmens für eine Weile funktioniert. Das macht ein Lexikon zum flüchtigsten Erzeugnis des menschlichen Geistes: schon zeigen sich erste Grauzonen, verketten sich, strahlen aus – die Verwandlung ins Scheinlexikon ist bereits in vollem Gang, während die ersten Kritiker noch seine Verlässlichkeit rühmen.

Wie jede veraltete Gattung erleidet auch das Lexikon das Doppelschicksal der Banalität und der Verwandlung in das, was Fachleute unter dem Begriff der ›Fiktionalisierung‹ abhandeln: aus einem handfesten Instrument der Weltbeschreibung wird ein Mittel der Welterkundung im Raum der literarischen Fiktion, den man ›frei‹ nennt, um anzudeuten, dass es dort mit der Wahrhaftigkeit im Detail nicht so weit her ist, während die Auskunftsfähigkeit ungeahnte Höhen erklimmt. Scheinlexika findet man auf beiden Seiten, verständlicherweise, denn darin besteht ja der Prozess des Veraltens, dass die angestammten Funktionen nur mehr zum Schein erfüllt werden. Wenn die Banalität nichts davon weiß, dann aus keinem anderen Grund, weil jetzt alle mitreden können und weil dieses Mitreden- und Mitschreibenkönnen als Gewinn verbucht wird. Im Wiki vereint: diese Vision hat für die Literatur der Freien keinen besonderen Neuheits-Charakter, sie reflektiert nur den Verdacht, dass im Reich des Viertel-, Halb- und Dreiviertelwissens ohnehin alle einem Regime unterstehen und sich gegenseitig mit ihren ›Vorstellungen‹ anstecken. Nun, ein Wiki ist alles andere als ein Reflexionsmedium, daher bleibt auch die Reflektion bloß Schein. Das banale Scheinlexikon ist der Sancho Pansa des wirklichen Scheinlexikons oder des realen Scheins, den nur die Literatur erzeugt, nicht etwa der Film, der mit seiner Weisheit am Ende ist, wo die der Dichtung beginnt (›Dichtung‹, ein Unwort im Zeichen der Herrschaft der filmischen Medien). Denn ›real‹ ist nicht der Schein, der von Bildschirmen auf ihre Betrachter niederflimmert, sondern das mit seinen Fiktionen spielende Leidwesen, an dem sich das Nachdenken über die Welt entzündet.

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