Das geheime Tagebuch wird durch die öffentliche Tagebuchschreiberei entwertet. Neben ihr wirkt es muffig, verkrampft oder lasziv. Im interessanteren Fall enthält es die geheimen Verbrechen – oder, bei mangelnder Tatkraft, Zeugnisse der Verbrechensbereitschaft – eines Menschen, der sich in Gesellschaft hinter der Maske des Biedersinns eingerichtet hat. Angesichts einer Welt, in der das Recht die Signatur des Verbrechens trägt, entstehen so Zeugnisse überlebender Menschlichkeit. Durch sie wird dem Gedanken der Unverfügbarkeit der Person immer neue Nahrung zugeführt, auch wenn dies angesichts der Masse der Verführten eine groteske Anmutung bleibt. Andererseits feiert gerade der Weblog, das Instant-Tagebuch für die vernetzte Welt, in dieser Disziplin seine eindrucksvollsten Erfolge. Der wäre kein richtiger Blogger, der sich nicht an dem Gedanken labte, einmal aus dem feindlichen Block heraus die misshandelte Wahrheit auf die Bildschirme der Informationsgemeinde zu zaubern. Angaben über Zeit und Ort des Geschehens, an denen es oftmals hapert, sind dafür unerlässlich, aber sie bergen die Gefahr, entdeckt und verfolgt zu werden, jedenfalls in der wirklichen Welt, in der getreten, geschunden, ermordet wird, und in der Einzelne oft für Jahre oder lebenslang hinter Gitter wandern weil ihnen ein unebenes Wort entschlüpfte. Weniges lässt sich leichter annehmen als die Attitüde eines akut oder potenziell Verfolgten, eines Menschen, der sich vorsorglich in den Schutz der Anonymität begibt, um Botschaften abzusetzen, deren Kenntnis vielleicht den Lauf der Welt verändert. Weniges lässt sich leichter fälschen, unterwandern und vortäuschen als die Aktivitäten eines Widerstandes, der nicht mehr kostet als das Equipment, das einer braucht, um dabeizusein. In dieser Welt bedeutet Dabeisein alles. Daher sind Gleichgültigkeit und Skepsis, die ständigen Begleiter der Aufklärung, Primärtugenden des digitalen Zeitalters, in dem aufs Kreuz gelegt wird, wer, der Eingebung seines Herzens folgend, einen Klick zuviel tätigt – und sei es nur im Gehirn. Das gilt für das gemeine ›Bloggen‹, es gilt für alle Aktivitäten im Bereich der vorgefertigten ›sozialen Medien‹, in denen die Verantwortung für das Geschriebene einen epochalen Tiefstand erreicht und der Gattungsappell die Frage nach den Schreibgattungen totschlägt.

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