Was die Tagebuch-Helden des Internet von ihren archaischen Vorfahren trennt, ist die Gleichgültigkeit der Adressaten, die der ungeheuerlichsten Enthüllung erst dann näherzutreten bereit sind, wenn ein angekündigter Massenmord wirklich stattfand oder das eigene Kind in den Abgrund gerissen wurde. Währenddessen nimmt das Duplizieren und Kommentieren im Netz der falschen Freunde kein Ende. Kontrollverlust als Strategie antwortet auf die faktische Folgenlosigkeit der lückenlosen Kontrolle. Gewiss, gelegentlich geht eine Mine hoch, doch das reicht nicht aus, um allgemein das Gefühl zu erzeugen, man spiele Russisch Roulette. Ertastet wird nicht die Grenze, sondern der diffuse innere Organbereich der Toleranz, in dem der fehlerstrotzendste Unfug, weder abgenommen noch nicht abgenommen, unter die Kuratel des prinzipiell abwartenden Verstandes gestellt bleibt. Ein Verdacht grundiert die mit bunten Andachtsbildchen überzogene Oberfläche des Netzes, der Verdacht, in der wirklichen Welt gehe es anders zu: anders, aber nicht anders als – ein feiner, nichtsdestoweniger beträchtlicher Unterschied. Zunutze machen ihn sich jene nicht ganz ernst zu nehmenden pseudo-ontologischen Deutungen aus den Anfängen des digitalen Mediums, die mit der Behauptung hausieren gehen, da draußen gebe es neben der handfesten Realität noch eine virtuelle, halb Märchen, halb Abenteuerspielplatz und obendrein Tischleindeckdich, in welche der Einzelne, wann immer ihm der Sinn danach steht, hinüberwechseln könne – mit den üblichen Sanktionen für soziales Fehlverhalten wie abrupten Revierwechsel und Ähnliches. Welch ein Unsinn. Wer in die Welt des uneingeschränkten Verdachts eintaucht, tauscht nicht die Welten, er tauscht nicht einmal die Interpretationen, er wirft nur die Spielmarke ein, die Ermittler, Wissenschaftler und Künstler seit jeher einwerfen, sobald ihr Spiel beginnt – er wirft sie ein, ohne Ermittler, Wissenschaftler oder Künstler zu sein, ohne jene geistigen und praktischen Fertigkeiten ausgebildet zu haben, die es ihm erlauben würden, das Spiel zu spielen. Die Welt, auf den Verdacht gestellt, sie könne anders sein als gedacht, ist jene auf den Kopf gestellte Welt, vor der Theoretiker mit Sinn für Masseneffekte immer gewarnt haben, um das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Wissenschaft und Publikum nicht zu gefährden. Speziell Schriftsteller stellen erstaunt fest, dass es auf sprachliches Differenzierungsvermögen nicht ankommt, sobald das Verlangen nach ungebremster Artikulation die Massen ergreift.
Das Nahverhältnis auf Distanz, wie es in Foren und Chatrooms herrscht, lässt die Herren über die Sprache alt aussehen. Als Distanzjongleure stehen sie fest, dass ihr Ton ins Leere geht, ›an allen vorbei‹ – kein Zufall, denn dafür haben sie ihn ausgebildet, er allein war jenes ›Medium in die Ferne‹, von dem sie sich ihre Wirkungen erhofften und wirklich erfuhren, da sie nun einmal nicht den Rang von Nachrichtenquellen besaßen, deren Botschaften auch ohne sprachlichen Schnickschnack funktionieren. Ein Chat mit einem Schriftsteller ist ein kannibalisches Ereignis, es sei denn, er vergisst den Schriftsteller, er vergisst, wer er ist, was er ist und was er zu sagen wünschte, bevor die Situation sich um ihn schloss. Gerade das kann er nicht. Das besondere Interesse, das hervorzulocken seine schriftfesten Äußerungen gestrickt sind, bleibt notwendig ausgeblendet, wo jeder nach der stärksten Äußerung greift, weil ihn niemand sieht, während er doch weiß, dass er unter Beobachtung steht. Am Tagebuch, diesem elementaren Behelfsmittel, das eigene Leben bedenkenswert zu machen, lässt sich am einfachsten nachvollziehen, wie wenig die Schreibform gegenüber dem Zugang zu den Verbreitungsmitteln bedeutet, vorausgesetzt, jemand folgt dem Bedürfnis, sich soziale Bedeutung zu erschreiben. In der digitalen Kommunikation erzeugt die Attitüde des Ich schreibe jetzt, wer ich in Wahrheit bin bloß ein Achselzucken – mehr ist sie dort, wo alle für alle schreiben, nicht wert.